"Expertokratie" und Moral: Demokratische Legitimität ethischer Politikberatung
In so ziemlich allen politischen Systemen gab und gibt es Berater, die die Entscheidungsträger durch wissenschaftliche Expertise unterstützen. Dies gilt genauso für die Bundesrepublik Deutschland - auch in besonders sensiblen Fragen, nämlich jenen, die ethische bzw. moralische Gesichtspunkte betreffen. Es entwickelte sich daher der Zweig der ethischen Politikberatung.
Eine Folge der steigenden Nachfrage nach Expertenwissen in ethischen Fragen ist die zunehmende Institutionalisierung politischer Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse in Ethikräte und in vergleichbare Gremien. Diese üben zum Teil erheblichen Einfluss aus und wo immer das der Fall ist, werden oft Befürchtungen über eine Bedrohung für die Demokratie geäußert. Denn: auf welche Weise sind diese Gremien überhaupt demokratisch legitimiert?
Von Christopher Isensee
Politische Partizipation als Teil demokratischer Legitimation
Demokratische Legitimation setzt sich aus der so genannten Input- und der Output-Legitimation zusammen. Erstere wurde in Deutschland durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt und geht auf juristische Dogmatik zurück. Letztere wurde durch die Sozialwissenschaften beeinflusst. Die Input-Legitimation beschreibt eher formale Anforderungen, die Output-Legitimation befasst sich mit inhaltlichen Kriterien. Mit der Zeit haben sich im Hinblick auf die Politikberatung bestimmte, wiederkehrende Elemente in Bezug auf demokratische Legitimation ergeben. Diese sind Rationalität (Richtigkeit der Entscheidung), die Akzeptanz des Volkes und dessen Partizipation.
Hierbei wird ein Spannungsverhältnis deutlich. Grundgesetzlich gesehen sind die Bürger unzweifelhafte Herrscher über alle staatlichen Entscheidungen, in dem sie die Entscheidungsträger auf demokratischen Wege – vor allem mittels Wahlen – legitimieren. Auf der anderen Seite stehen Experten und Berater, die über wissenschaftlich fundierte Informationen verfügen.
Politische Partizipation, die je nach Definition mitunter weit über das simple Setzen eines Kreuzchens alle vier Jahre hinausgeht, wird gemeinhin als Herzstück der Demokratie angesehen. Deshalb wird versucht, neue Formen politischen Entscheidens durch partizipatorische Elemente anzureichern, so zum Beispiel durch plural zusammengesetzte Kommissionen, denen auch so genannte Laien angehören.
Besonderheiten ethischer Politikberatung
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas prägte bereits in den 1950er Jahren drei Modelle der Politikberatung.
1. Das dezionistische Modell, das Politik und Wissenschaft trennt, wobei erstere Werturteile trifft und sich den Informationen der letzteren bedient.
2. Das technokratische Modell, das wissenschaftlichen Sachzwängen Rechnung trägt und der Politik nur eine ausführende Funktion zuschreibt.
3. Das pragmatische Modell, das eine Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik anregt. Dieses kann um die so genannte partizipative Politikberatung erweitert werden - hier werden auch die Bürger an den Beratungen zur Entscheidungsfindung aktiv beteiligt.
Ethische Politikberatung ist in Deutschland bisher vorwiegend durch das technokratische Modell geprägt und das obwohl die Eigenschaften ethischer Fragen eher eine Hinwendung zum pragmatischen bzw. partizipativen Modell nahelegen würden.
Zu diesen Eigenschaften gehört ein Themenspektrum, das durch moralisch besetze Bereiche von öffentlichem Interesse wie zum Beispiel unmittelbaren Fragen zum Beginn und Ende menschlichen Lebens, zum Lebenswert und zur Gesundheit geprägt ist. Auch beinhaltet ethische Politikberatung einen Verhaltenskodex, der Wahrhaftigkeit, Transparenz und die Trennung von der Beratungstätigkeit und Ämtern oder Mandaten. Ferner dürfen ethische Politikberatungsinstanzen keine weiteren als moralische Ziele verfolgen.
Gerade weil sich die ethische Politikberatung der Beantwortung rein technischer, naturwissenschaftlicher Fragen erhebt und stattdessen moralische Wertungen in den Mittelpunkt rückt, ist nach der Beratungskompetenz zu fragen. Nicht nur Ethiker sind in der Lage, moralische Urteile zu fällen, sondern das ist eine Fähigkeit, die jedem Bürger innewohnt. Moralische Fragen werden von verschiedenen Individuen unterschiedlich beantwortet. In einer demokratischen Gesellschaft muss somit ein Wertekonsens gefunden werden.
Das Beispiel Deutscher Ethikrat
Die bedeutsame Einrichtung ethischer Politikberatung in Deutschland ist der Deutsche Ethikrat, der 2001 als Nationaler Ethikrat von der damaligen rot-grünen Bundesregierung ins Leben gerufen wurde – nachdem ethische Politikberatung seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Kommissionen oder bei den Gesundheitsministerien etablierten Beiräten stattgefunden hatte. 2007 erfolgte die Restrukturierung unter dem aktuellen Namen.
Der Deutsche Ethikrat hat drei Kernaufgaben: "die Information der Öffentlichkeit und die Förderung der Diskussion in der Gesellschaft, die Erarbeitung von Stellungnahmen sowie von Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln für die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag sowie die Zusammenarbeit mit nationalen Ethikräten und vergleichbaren Einrichtungen anderer Staaten und internationaler Organisationen." (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 1-3 EthRG).
Dem Deutschen Ethikrat gehören 26 vom Bundestag und der Bundesregierung paritätisch besetzte Mitglieder an. Sie werden einmalig für vier Jahre bestellt und sollen ein interdisziplinäres, plurales Meinungsspektrum abbilden. So gehören dem Gremium Wissenschaftler aus den Bereichen Naturwissenschaft, Medizin, Theologie, Philosophie, Ethik, Soziales, Ökonomie und Recht an. Hierbei kann jedoch nicht immer klar zwischen Experten und Interessenvertretern unterschieden werden.
Auch ist fraglich, ob die gewünschte Adressierung der Öffentlichkeit von Erfolg gekrönt ist. Zwar werden durch den Deutschen Ethikrat Debatten angeregt, doch das Gremium selbst ist kaum als Forum für einen Dialog zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um einen Sachverständigenrat, der bei Bedarf Anhörungen mit Betroffenen durchführen kann, aber nicht muss. Ein Blick in die Besetzungsliste des Gremiums lässt so genannte Laien vermissen.
Angesichts der in ethischen Fragen hervorzuhebenden Pluralität und des Strebens nach moralischem Konsens ist diese Exklusion fragwürdig, denn ein "participatory turn" würde nicht nur der Demokratie Rechnung tragen, sondern auch dem Auffinden bestmöglicher Lösungen für moralische Fragestellungen dienlich sein.
Schlussbemerkungen
Gerade ethische Politikberatung lebt nicht nur von qualitativ hochwertigen Argumenten, sondern auch von der Quantität. Betroffene sind nicht nachweislich leichter beeinflussbar als Experten und die oftmals vorgeschobene Emotionalität von Laien ist im Hinblick auf moralische Werturteile kein Ausschlusskriterium, sondern vielmehr Bedingung. Geringe Effizienz darf keine Ausrede für die Exklusion sein. Insofern scheint es dringend angeraten, den partizipatorischen Charakter des Deutschen Ethikrates zu stärken, auch wenn dessen tatsächliche Wirkmächtigkeit umstritten ist.
Für eine stärkere Bürgerbeteiligung im Rahmen ethischer Politikberatung müssen Modelle für einen herrschaftsfreien Diskurs geschaffen und erprobt werden. Ein Austausch von Argumenten sollte zwischen Laien, Interessenvertretern und Experten stattfinden können. Solche Modelle können in Form von Mediationen, Bürgerkonferenzen, Planungszellen oder "runden Tischen" geschaffen werden. Insbesondere mit den in Deutschland bisher stiefmütterlich behandelten Bürgerkonferenzen konnten beispielsweise in Dänemark und in den Niederlanden positive Ergebnisse erzielt werden. Es wäre auch denkbar, diese möglicherweise beim Deutschen Ethikrat anzusiedeln, um einen profitablen Austausch zwischen Experten und Nicht-Experten zu ermöglichen.
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