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Kommt es während einer Großen Koalition zur Einschränkung der Funktionsfähigkeit des Bundestags?

von Martin van Elten

Seit 2013 bildeten CDU/CSU und SPD eine Große Koalition - bereits zum dritten Mal in der Geschichte des Deutschen Bundestages, und sicher nicht zum letzten Mal. 127 Abgeordnete von LINKEN und GRÜNEN standen 502 Abgeordneten von Union und SPD gegenüber – eine wahre Übermacht. Aber ist die Regierung damit allmächtig? Welche Einflussmöglichkeiten die Opposition hat, beleuchtet Martin van Elten in seiner Hausarbeit.

Diskussionen um die Funktionsfähigkeit des Bundestags während Großer Koalitionen sind alles andere als neu. Bereits die Bildung der ersten Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger löste in der Bevölkerung Ängste aus. So wurde diese als Gefährdung für die parlamentarische Demokratie angesehen.[1]

Im Kern dieser Debatte steht die Frage, ob es durch Große Koalitionen zu einer Einschränkung der Gewaltenteilung kommt. Nach der politologischen Gewaltenteilungslehre von Winfried Steffani kann man zwischen staatsrechtlicher, temporaler, föderativer, konstitutioneller, dezisiver und sozialer Teilungslehre unterscheiden.[2]

Ohne Opposition keine Kontrolle

Die staatsrechtliche Gewaltenteilung ist auch als „horizontale“ Gewaltenteilung bekannt. Kern ist die Trennung der Staatsgewalt in Legislative, Exekutive und Judikative. Sie wird zwar im Grundgesetz festgeschrieben, ist allerdings im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik nie verwirklicht worden.[3] Real wird die Gesetzgebung (Legislative) und Vollziehung (Exekutive) durch die Regierungsmehrheit, das heißt von einer Aktionsgemeinschaft aus Regierung und Parlamentsmehrheit übernommen, während die Kontrolle der Regierung Aufgabe der Parlamentsminderheit ist.[4] Der entscheidende Gegensatz besteht nicht wie oft angenommen zwischen Regierung und Parlament, sondern zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Folglich setzt staatsrechtliche Gewaltenteilung vor allem die „Existenz einer funktionsfähigen Opposition“[5] voraus.

Zersplittert und handlungsschwach

Die Arbeitsfähigkeit der Opposition ist während einer Großen Koalition aus zwei Gründen einschränkt. Auf der einen Seite besteht eine personelle Schwäche und auf der anderen Seite gibt es Instrumente der Parlamentsminderheit, die an bestimmte Quoren gebunden sind, die von der „Mini-Opposition“ nicht erreicht werden können. Zwar stellte die Opposition der vergangenen Legislaturperiode knapp 20% der Mandate und somit fast doppelt so viele Mandate wie die FDP-Opposition während der ersten Großen Koalition; die höhere Mandatsanzahl relativiert sich aber, wie auch die Opposition zwischen 2005 und 2009 gezeigt hat, weil die zwei, beziehungsweise drei Parteien verschiedene politische Programme verfolgt und selten strategische Allianzen gebildet haben.[6]

Viele Kontrollrechte können auch von einer personell schwachen Opposition wahrgenommen werden, zum Beispiel kann jeder Abgeordnete kurze Fragen an die Bundesregierung stellen, Fraktionen und eine Gruppe von Abgeordnete in Fraktionsstärke können darüber hinaus Kleine und Große Anfragen stellen, Gesetze initiieren, Alternativanträge zu Gesetze stellen, namentliche Abstimmungen sowie aktuelle Stunden beantragen.[7]

Für eine stärkere Opposition

Ein Teil „typischer“ Minderheitsrechte ist aber an ein bestimmtes Quorum von Abgeordneten gebunden. In der Regel sind, um diese Rechte wahrzunehmen, ein Viertel der Abgeordneten des Deutschen Bundestags erforderlich, zur Einberufung einer Sitzung des Bundestags ist sogar ein Drittel erforderlich (Art. 39 GG). Hinsichtlich vorangegangener Großer Koalition, wo die Opposition keine Möglichkeit hatte, diese Rechte (u.a. Einberufung eines Untersuchungsausschusses, Subsidiaritätsklage, Untersuchung im Verteidigungsausschuss, Einsetzung einer Enquête-Kommission) auszuüben, gab es in der vergangenen Wahlperiode eine Verbesserung. Den Oppositionsfraktionen wurde über eine Änderung der Geschäftsordnung ermöglicht, diese Rechte auch durch 120 Abgeordnete, beziehungsweise die Ausschussmitglieder der Oppositionsfraktionen auszuüben.[8]

 Keine Einigung gab es dagegen bei der Regelung der abstrakten Normenkontrollklage, in denen die Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesgesetzen mit dem Grundgesetz überprüft werden kann.[9] In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Klage der Fraktion DIE LINKE zu den Rechten der Opposition wurde geurteilt, dass es keine spezifischen „Oppositions(fraktions-)rechte“[10] gebe. Zwar dürfe die Opposition „bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein“,[11] allerdings gebe es im Grundgesetz keine Regelung, die Rechte an eine bestimmte Anzahl von Fraktionen knüpfe.[12] Minderheitenrechte stünden allen Abgeordneten, egal ob aus den Regierungs- oder Oppositionsfraktionen zur Verfügung. Die Normenkontrollklage sei deshalb zwar ein Instrument der Minderheit, aber nicht speziell der Opposition.[13]

In Interpretation des Urteils wies DIE LINKE darauf hin, dass die Grundgesetzwidrigkeit eines Gesetzes auch im Organstreitverfahren von einer Fraktion geltend gemacht werden kann.[14] Das Bundesverfassungsgericht wies zurecht darauf hin, dass auch Kontrolle der Bundesregierung durch die regierungstragenden Fraktionen stattfinden kann. In der Praxis findet diese in der Regel als „interne Mitsteuerung“[15] statt und wird deshalb auch oft nicht als Kontrolle, sondern treffender als Einfluss bezeichnet.[16]

Große Koalition: Im Dauerzustand problematisch

Die temporale Gewaltenteilung bezieht sich auf die zeitliche Befristung von Herrschaftsausübung. Entscheidend ist dabei, ob die Opposition selbst die „reale Chance“ [17] besitzt, durch die Wahl „Regierungsmehrheit zu werden“.[18] Durch Große Koalitionen wird die temporale Gewaltenteilung eingeschränkt, da die Möglichkeit eines „vollständigen“ Regierungswechsel nach der nächsten Bundestagswahl utopisch erscheint. Allerdings lässt sich erst, wenn Große Koalitionen zum Dauerzustand werden, eine grundlegende Einschränkung der temporalen Gewaltenteilung vermuten.

Die föderative, auch vertikale Gewaltenteilung genannt, die in Deutschland vor allem durch die Aufteilung der Staatsgewalt in Bund und Länder sichergestellt wird, wurde und wird während der drei Großen Koalitionen faktisch eingeschränkt. Die Zahl der Konflikte zwischen Bundestag und Bundesrat nimmt deutlich ab. Empirisch lässt sich dies für die Große Koalition zwischen 2005 und 2009 eindeutig belegen, die Konflikthäufigkeit reduzierte sich um 90 Prozent; nur kleine Koalitionen mit eigener Bundesratsmehrheit wiesen eine noch geringe Konflikthäufigkeit auf.[19] Auch für die Große Koalition der letzten Legislaturperiode scheint sich die Hypothese zu bestätigen, gleichwohl CDU/CSU und SPD zu keinem Zeitpunkt über eine eigene Bundesratsmehrheit verfügten.

Die konstitutionelle Gewaltenteilung verlangt, dass zwischen Verfassungsgeber und einfachem Gesetzgeber unterschieden wird. Diese kann während Großer Koalitionen als eingeschränkt angesehen werden. Das liegt weniger an der höheren Zahl von Verfassungsänderungen, sondern in der Reichweite der Folgen der Änderungen, als Beispiele sei hier die Notstandsverfassung und die Föderalismusreform I genannt.[20]

Hinsichtlich dezisiver Gewaltenteilung, nach der fünf, in Interdependenz zueinanderstehende

Diskussions- und Entscheidungsebenen (Regierung, Parlament, Parteien, Interessengruppen,

Öffentliche Meinung) unterschieden werden und der sozialen Gewaltenteilung (gleicher Zugang zu politischer Macht und Ämtern), scheint es bei Großen Koalitionen nicht zu Änderungen zu kommen.


[1] Vgl. Klaus Hildebrand, Die Große Koalition 1966–1969. Gefährdung oder Bewährung der parlamentarischen Demokratie?, in: Werner J. Patzelt / Martin Sebaldt / Uwe Kranenpohl (Hrsg.), Res publica semper reformanda: Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls, Wiesbaden 2008, S. 360.

[2] Vgl. Winfried Steffani, Gewaltenteilung und Parteien im Wandel, Opladen 1997, S. 38.

[3] Vgl. Eberhard Schuett-Wetschky, Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung? Nach dem Scheitern des Gewaltenteilungskonzeptes des Parlamentarischen Rates: Gemeinwohl durch Parteien statt durch Staatsorgane?, in: Klaus Dicke (Hrsg.), Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland. 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 50 Jahre Grundgesetz, 10 Jahre Fall der Mauer, Baden-Baden 2001, S. 68.

[4] Vgl. Gerd Strohmeier, Große Koalitionen in Deutschland und Österreich, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 19 (2009), H. 1, S. 24.

[5] Siehe Heribert Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozess während der Grossen Koalition 1966 bis 1969. Struktur und Einfluss der Koalitionsfraktionen und ihr Verhältnis zur Regierung der Grossen Koalition, Meisenheim am Glan 1975, S. 242.

[6] Vgl. Wenke Seemann, Die Gesetzgebungstätigkeit der zweiten Großen Koalition (2005-2009), in: Sebastian Bukow / Wenke Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition: Regierung – Politik – Parteien 2005–2009, Wiesbaden 2010, S. 45.

[7] Vgl. Deutscher Bundestag, Geschäftsordnung (GO-BT), https://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/go_btg (Abruf am 17.07.2017).

[8] Vgl. Deutscher Bundestag, a.a.O. (Fn. 7), §126a, Abs. 2 GO-BT.

[9] Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 18. Sitzung (Plenarprotokoll 18/18), http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18018.pdf (Abruf am 17.07.2017).

[10] Siehe Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 03. Mai 2016  - 2 BvE 4/14 - Rn. (1-139), http://www.bverfg.de/e/es20160503_2bve000414.html (Abruf am 17.07.2017), S. 2.

[11] Siehe Bundesverfassungsgericht, a.a.O. (Fn. 10), S.2.

[12] Siehe Bundesverfassungsgericht, a.a.O. (Fn. 10), S.2.

[13] Siehe Bundesverfassungsgericht, a.a.O. (Fn. 10), S.2.

[14] Siehe Gregor Gysi, Verloren und doch gewonnen, https://www.linksfraktion.de/presse/pressemitteilungen/detail/verloren-und-doch-gewonnen/ (Abruf am 17.07.2017).

[15] Siehe Manfred Schwarzmeier, Gouvernementale Kontrolle und parlamentarische Mitsteuerung, in: Everhard Holtmann / Werner J. Patzelt (Hrsg.), Kampf der Gewalten? Parlamentarische Regierungskontrolle — gouvernementale Parlamentskontrolle. Theorie und Empirie, Wiesbaden 2004, S. 57.

[16] Vgl. Manfred Schwarzmeier, a.a.O. (Fn. 15), S. 57.

[17] Siehe Winfried Steffani, a.a.O. (Fn. 2), S. 43.

[18] Siehe Winfried Steffani, a.a.O. (Fn. 2), S.43.

[19] Vgl. Wenke Seemann, a.a.O. (Fn. 6), S.52.

[20] Vgl. Wenke Seemann, a.a.O. (Fn. 6), S.54f.