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Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in der Altmark

von Oliver Schmiedl

Die politischen und rechtlichen Schritte, die zur Machtergreifung Hitlers führten, gehören heute zum Allgemeinwissen. Aber wie gewannen die Nationalsozialisten die Stimmen der kleinen Leute? Oliver Schmiedl hat die öffentliche Stimmung jener Jahre im Rahmen seiner Abschlussarbeit unter die Lupe genommen und alarmierende Parallelen zur heutigen Zeit gefunden.

Der 30. Januar 1933 gilt als eine der wichtigsten Zäsuren in der jüngeren deutschen Geschichte. Das, was heute mit diesem Datum verbunden wird, „war ein Vorgang von so enormer Wucht und emotionaler Intensität, dass er bereits von den Zeitgenossen in- und außerhalb Deutschlands als tiefgreifender Einschnitt, als Epochenbruch empfunden wurde.“(1)

Während die einzelnen Schritte der Machtergreifung in Zentren staatlicher Herrschaft mittlerweile gut erforscht sind, gilt dies nicht für ländlichen Gebiete und einfache, regionale Verwaltungsstrukturen. Dazu gehören besonders die protestantisch geprägten Agrarregionen, wie der Landkreis Salzwedel in der Altmark Sachsen-Anhalts, die nach 1930 zu den wichtigsten Wahlhochburgen der Nationalsozialisten zählten. Der bisher zu diesem Thema existierenden Literatur ließ sich nur entnehmen, dass die „Vorgänge in Salzwedel und in der Altmark [...] in den Bahnen der allgemeinen Entwicklung in Deutschland [verliefen].“(2)

Bürgerlich-konservativ gegen deutsch-völkisch

Um ein differenzierteres Bild zu zeichnen habe ich in meiner Staatsexamensarbeit die Hypothese aufgestellt, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Kreis Salzwedel (und ähnliches kann für die gesamte protestantisch geprägte Agrarregion der Altmark angenommen werden) als ein Prozess von (Macht-) Verschiebungen im bürgerlich-nationalen Lager verstanden werden kann.(3) Dabei wird unter dem bürgerlich-nationalen Lager – in Anlehnung an die Milieukonzeption des Soziologen Mario Rainer Lepsius – nicht nur ein protestantisch-konservatives (bürgerliches) Milieu subsumiert(4), sondern es wird davon ausgegangen, dass es im Laufe der Weimarer Republik in Anbetracht der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung zur Herausbildung eines weiteren Milieus kam: ein deutsch-völkisches Milieu, das in zunehmender Konkurrenz zu den alten bürgerlich-konservativen Kräften trat.(5)

Im Landkreis Salzwedel gab es ein stark ausgeprägtes konservatives Milieu. Ausgehend vom Deutschen Kaiserreich und besonders in der Umbruchsituation nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte es im Laufe der Zeit eine dominante Stellung innerhalb der Gesellschaft . Die konservativen Kräfte deuteten die Weimarer Republik als einen schwachen, durch den Versailler Vertrag „zerstückelten“ Staat, welcher im Schatten des starken und großen, aber untergegangenen Kaiserreiches nie, bzw. nur widerwillig akzeptiert wurde. Deshalb schufen sie sich eine ideelle Gegenwelt, welche geprägt war von Antisozialismus bzw. -bolschewismus, Militarismus, Antiparlamentarismus und einem übersteigerten, extremen Nationalismus.(6) Mit der schrittweisen Konstituierung des deutsch-völkischen Milieus Mitte der zwanziger Jahre im Kreis Salzwedel wuchs eine neue politische Kraft im nationalen Lager heran.

Gemeinsam für die gute alte Zeit

Die Untersuchung zeigte, dass sich die Völkischen in einigen grundlegenden Punkten von den Konservativen unterschieden und bewusst von diesen abgrenzten. Dennoch gab es in beiden Milieus einen „antiparlamentarischen Fundamentalkonsens“ und eine „Interessenkoinzidenz“ (Ulrich Herbert). Die Nationalsozialisten entwickelten gezielt Strategien, welche den Machtverschiebungsprozess im bürgerlich-nationalen Lager begünstigten: Suggestion einer Anknüpfung an Werte und Traditionen des konservativen Milieus, Überbetonung des gemeinsamen Feindes, d.h. der Kommunisten und Sozialisten, sowie ein entschlossenes Vorgehen gegen diese, sonst eher ein vorsichtiges Agieren (bis zu den Kommunalwahlen im März und selbst danach betrafen radikalere Maßnahmen eher die Spitzenpositionen der kommunalen und regionalen Verwaltung) und größtenteils die Vermeidung von offenem Terror.

Es lassen sich in den lokalen Tageszeitungen und Festreden jener Jahre viele Beispiele finden,die diese Erkenntnisse stützen. So fandAnfang Mai 1933 in Salzwedel ein großer SA-Aufmarsch statt. Dazu verkündete das Salzwedeler Wochenblatt: „. […] Wieder stand Salzwedel im Zeichen von Schwarz-weiß-rot und Hakenkreuz. Kolonnen auf Kolonnen rückten heran. Man formierte sich auf den Gänsemärschen [ein Ort in Salzwedel, Anm. d. Verf., O.S.], wo 11,30 Uhr der Feldgottesdienst bei einer riesigen Beteiligung der Einwohnerschaft Salzwedels vor sich ging. […] Den Abschluß bildete ein Treuebekenntnis für den Führer und Volkskanzler Adolf Hitler!“(7) An diesem Auszug lässt sich archetypisch die Verbindung von Altem (schwarz-weiß-rot, Feldgottesdienst) und Neuem (Hakenkreuz, Lob auf den Führer) erkennen.

Auch bei den Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum im selben Monat lässt sich Ähnliches feststellen. So ruft der nationalsozialistische Hauptredner – Wilhelm Friedrich Loeper, der Gauleiter Magdeburg-Anhalts – folgende Worte in die Menge: „Seit jenen Januartagen, als der greise Feldmarschall sich entschloß, dem jungen Führer des erwachten Deutschlands die Hand zu einem ewigen Bunde zu reichen, ging es wie ein Aufatmen durch das ganze Volk. Wie könnte die Stadt Salzwedel mit frohem Herzen das Fest feiern, wenn nicht ein Hitler die Voraussetzung zu einer freudigeren Zukunft geschaffen hätte!“(8)

Der Wolf im Schafspelz

Durch diese bewusst gewählten Praktiken gelang es den Nationalsozialisten im Kreis Salzwedel relativ reibungslos, die Macht zu übernehmen. Frank Bösch weist in seiner Studie über das konservative Milieu darauf hin, dass die NSDAP in der „protestantischen Provinz vor allem deshalb rasante Wahlerfolge erringen [konnte], weil sie [sich] an das kommunikative und weltanschauliche Netz des konservativen Milieus anlehnte.“(9)

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die NSDAP in der Region der Altmark bewusst konservativ auftrat und so den Prozess der Machtverschiebung im nationalen Lager begünstigte. In allen ländlichen Gebieten, welche durchweg protestantisch waren und wo es dementsprechend ein stark ausgeprägtes konservatives Milieu gab, lassen sich ähnliche Vorgänge finden. Der „schleichende“ Prozess der Machtübernahme muss also auch als eine Geschichte der substanziellen Unterschätzung der Gefahr der von den Nationalsozialisten bewusst gewählten Praktiken seitens der konservativen Kräfte erzählt werden. In Zeiten des Erstarkens rechtspopulistischer Kräfte überall in Europa und dem Schmieden rechter Regierungsbündnisse (siehe z.B. die schwarz-blaue Koalition aus FPÖ und ÖVP in Österreich) sollte dieser Umstand zum Nachdenken anregen.

 

1Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 306.

2 Kalmbach, Ulrich: Laßt es ruhn!?: Salzwedel im Nationalsozialismus. Ausstellung zur Geschichte Salzwedels in

der Zeit des Nationalsozialismus 1933 - 1945. Museen des Altmarkkreises Salzwedel, Spröda 1999, S. 12.

3 Vgl. zum Konzept der politischen Lager Rohe, Karl: Wahlanalyse im historischen Kontext. Zu Kontinuität und

Wandel von Wahlverhalten, in: Historische Zeitschrift 234 (1982), S. 337-357.

4 Vgl. Hübinger, Gangolf: „Sozialmoralisches Milieu“. Ein Grundbegriff der deutschen Geschichte, in: Sigmund,

Steffen/ Albert, Gert/ Bienfait, Agathe/ Stachura, Mateusz (Hrsg.): Soziale Konstellationen und historische

Perspektive. Festschrift für M. Rainer Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 208.

5 Die Annahme eines deutsch-völkischen Milieus fußt primär auf die Erkenntnisse von Sontheimer, Kurt:

Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus

zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1994, S. 114ff. und Breuer, Stefan: Die radikale Rechte in Deutschland

1871-1945. Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010, S. 152ff.

6 Vgl. Bösch, Frank: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen

Regionen (1900-1960), Göttingen 2002, S. 218.

7SW vom 08.05.1933, Art. „Großer SA-Aufmarsch in Salzwedel.“.

8SW vom 29.05.1933, Art. „Die 700-Jahrfeier Salzwedels.“

9 Bösch, Milieu, a.a.O., S. 222.