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Ungarn unter Viktor Orbán – demokratischer Rechtsstaat oder Autokratie?

Nach dem Fall der Sowjetunion sollten die ehemals diktatorisch regierten Teilrepubliken in liberale Demokratien transformiert werden. Im Kontext der Westintegration galt vor allem Ungarn lange Zeit als Paradebeispiel. Dort glichen sich neben dem politischen System auch ökonomische Leistungskriterien und gesellschaftliche Lebensstandards westeuropäischen Maßstäben an (vgl. Rupnik 2016: 78). Doch seit im April 2010 der nationalkonservative Fidesz unter Viktor Orbán die Parlamentsmehrheit erlangte, ist die Demokratiequalität Ungarns Gegenstand kontroverser Debatten. 

Von Steven Kocadag

Während die Kritiker der neuen Regierung Demokratieabbau, Verstöße gegen die Menschenrechte und den Bruch mit rechtsstaatlichen Prinzipien unterstellen (vgl. Kaufmann 2018; Jelpke 2018), beurteilen ihre Befürworter den neuen Kurs gänzlich konträr als Verwirklichung der Demokratie (vgl. Meuthen/Gauland: 2018; Becker 2018; Alexe 2018). Schließlich sei, so Letztere, Viktor Orbán demokratisch gewählt und daher rechtmäßig dazu befugt, durch seine Amtshandlungen den Willen des Volkes auch gegen äußere Widerstände durchzusetzen. Dass sich sowohl die Bedenken der Kritiker, als auch die Rechtfertigungen der Unterstützer auf den selben Gegenstand beziehen, lässt unterschiedliche Auffassungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zwischen den beiden Lagern vermuten. Doch wessen Version hält einer wissenschaftlichen Prüfung stand? Ist die ungarische Demokratie tatsächlich in der Krise? Oder handelt es sich bloß um eine medial überdramatisierte Hetzkampagne? Um diese Fragen aus einer wissenschaftlichen Perspektive beantworten zu können, werden zunächst generelle Anforderungen an ein demokratisches System aus dem Konzept der „Eingebetteten Demokratie“ extrahiert, damit im Anschluss das ungarische System unter diesen Gesichtspunktion bewertet werden kann.

Die Eingebettete Demokratie

Demokratie war bereits Gegenstand antiken Denkens und so überrascht es kaum, dass inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher Demokratietheorien existiert. Einen abstrahierenden Uberblick liefert die Eingebettete Demokratie von Wolfgang Merkel (Merkel et. al. 2003: 49 ff.). In dem Modell werden 5 Teilregime definiert, die für eine funktionierende Demokratie notwendig sind und die sie von anderen Regierungsformen unterscheidet. Das Modell eignet sich für die vorliegende Fragestellung, da es den definierenden Kern des demokratischen Systems, mitsamt seiner konstituierenden Prinzipien und Grenzen dazulegen versucht (Merkel 2016: 455). Im Zentrum des Modells steht das Wahlregime (Teilregime A), welches den Zugang zu den zentralen staatlichen Herrschaftspositionen über Wahlentscheidungen an den Bürgerwillen bindet. Obwohl Wahlen eine hervorgehobene Rolle in der Eingebetteten Demokratie spielen, können sie alleine kein demokratisches Regieren sicherstellen. Denn auch wenn ein Staat ein entsprechendes Wahlregime gewährleistet, kann eine Regierung zum Beispiel Meinungs- und Pressefreiheit oder gar gezielt die Freiheitsrechte einiger Bürger und Gruppierungen einschränken, um die Oppositionskraft zu mindern.

Als weitere notwendige Komponente stellen daher Politische Partizipationsrechte (Teilregime B) sicher, dass Bürger sich gemeinsam organisieren, ihre Meinung kundtun und sich durch freie Medien informieren können. Darüber hinaus begrenzen bürgerliche Freiheitsrechte (Teilregime C) die Reichweite des Staates und schützen das Individuum so vor Eingriffen in Leben, Freiheit und Eigentum. Durch die Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz (Teilregime D) wird gewährleistet, dass auch die Regierung nicht über alles alleine entscheiden darf, sondern an Parlament und Verfassung gebunden ist. Zuletzt muss die reale Gestaltungsmacht bei demokratisch gewählten Personen (Teilregime E) liegen und nicht etwa beim Militär.

Die Transformation des Staates

Der Gewinn der absoluten Mehrheit befähigte den nationalkonservativen Fidesz, die junge Demokratie durch ein bürgerliches, stärker national ausgerichtetes Ungarn zu ersetzen (vgl. Bos 2013: 135). Zu diesem Zweck erließ die neue Regierung allein in den ersten dreieinhalb Jahren ihrer Amtszeit über 800 Gesetze, darunter eine neue Verfassung und fünf umfangreiche Ergänzungen (vgl. Scheppele 2017: 454). Bereits ein Jahr nach Amtsantritt begann der Fidesz die Fairness der Wahlen einzuschränken. So wurde die Anzahl benötigter Unterschriften für eine Kandidatur zulasten kleiner Parteien angehoben, die Zahl der Wahlbezirke reduziert und die Wahlkreise derart umdefiniert, dass der Fidesz bei allen bisherigen Wahlen mehr Mandate gewonnen hätte (vgl. Salzborn 2015: 80). Außerdem wurde ein selektives Wahlrecht für Auslandsungarn eingeführt, welches fast ausschließlich von Personen genutzt wird, die sich von den nationalistischen Mobilisierungskampagnen angesprochen fühlen (vgl. Salzborn 2015: 80: 79.). Neben der Einschränkung des Wahlregimes, versuchte der Fidesz gleichzeitig die öffentliche Meinung zu seinem Vorteil zu beeinflussen. Dazu wurde zunächst eine regierungstreu besetzte Medienbehörde eingeführt, die unter dem Vorwand der "Politischen Ausgewogenheit" regierungskritische Medien sanktionieren kann (vgl. Bachmann/ Hejj 2018: 141). In der Folge ist die Medienvielfalt in Ungarn heute stark eingeschränkt (Bajomi-Lazar 2017: 167 f.). Darüber hinaus führt die Regierung staatliche Kampagnen zur Mobilisierung und Stimmungsmache durch. So sind stark suggestiv formulierte Umfragen zu Themen wie „Einwanderung und Terrorismus“ im Tenor der Regierung verfasst und dienen zur Desinformation und Manipulation (vgl. Bos 2018a: 26).

Um weitreichende Beschlüsse zu verabschieden und ihren Willen auch ohne Zustimmung durchsetzen zu können, hat die Regierung politische Vetospieler entmachtet. So wurde das Verfassungsgericht in seinen Prüfungskompetenzen eingeschränkt (vgl. Bachmann/Hejj 2018: 131) und dem Parlament mit dem Budgetrecht seine Kernfunktion entzogen (vgl. Bos 2013: 137). Auch die Verfassung wurde von einem Dokument, dass nach demokratischer Praxis die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns sicherstellen soll, zu einem Instrument der Regierungsinteressen umfunktioniert (vgl. Halmai 2016 :4). So wurden enthaltene Bestimmungen, welche die Handlungsspielräume der Regierung begrenzten, abgebaut und gleichzeitig partikulare Regierungsinteressen in ihr verankert (ebd.). Schließlich wurde auch die Unabhängigkeit der Justiz aufgegeben. Durch die Reduktion des Pensionsalters von Richtern, Staatsanwälten und Notaren konnten 236 leitende Richterstellen regierungstreu neubesetzt werden (vgl. Bachmann/Hejj 2018: 134). Auch sorgte die Regierung dafür, dass sie die Verfassungsrichter ohne Mitarbeit der Opposition auswählen konnte und gründete ein nationales Justizamt, welches für jeden Rechtsstreit das passende Gericht auswählen kann (vgl. Jakab/Sonnevend 2012: 92).

Demokratische Fassade

Auch wenn demokratische Institutionen im ungarischen System noch formal existieren, sind ihre Kernfunktionen durchsetzt von Mängeln und Einschränkungen. Um ihre Macht über die Legislaturperiode hinaus zu sichern, hat die Regierung eine Vielzahl von Kardinalgesetzen verabschiedet, die nur mit 2/3 Mehrheit abzuschaffen sind (vgl. Salzborn 2015: 80: 74.). Darüber hinaus wurden Machtpositionen außerhalb der demokratischen Kontrolle geschaffen und mit langen Amtsdauern versehen. Das Risiko einer Wahlniederlage wurde durch die Modifikation der Wahlkreise und die Einschränkung politischer Partizipationsrechte zulasten der Opposition minimiert. Zuletzt wurden die Gewaltenteilung aufgehoben, indem die Vetospieler ihrer Kompetenzen beraubt wurden. Zusammengenommen erfüllt das politische System Ungarns nur noch einen Bruchteil demokratischer Prinzipien und lässt sich daher eher als Autokratie mit Wahlen charakterisieren.

 

Literatur

Alexe, Thilo (2018): Umstrittener Glückwunsch. Letzter Zugriff: 24.8.2018. Online unter:

http://www.lvz.de/Region/Mitteldeutschland/Sachsens-CDU-Fraktionschef-gratuliert-ViktorOrban-zum-Wahlsieg

Bachmann, Klaus/ Héjj, Dominik (2018): „Illiberale Demokratien“. Baupläne aus Ungarn und Polen. In: Zeitschrift Osteuropa. 3-5/2018, S. 127-147.

Bajomi-Lazar, Peter (2017): Particularistic and Universalistic Media Policies: Inequalities in the Media in Hungary, Javnost - The Public, 24:2, 162-172.

Becker, Markus (2018): Orbans Sieg spaltet Europa. Letzter Zugriff 24.8.2018. Online unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-viktor-orbans-wahlsieg-spaltet-europa-a-1201913.html

Bos, Ellen (2013): Die ungarische Demokratie in der Krise? Veränderungen des politischen Systems in Ungarn nach drei Jahren Regierung Viktor Orbán. In: Südosteuropa Mitteilungen 03-04/2013, S. 128-141.

Bos, Ellen (2018a): Das System Orbán - Antipluralismus in Aktion. In: Zeitschrift Osteuropa. 3-5/2018, S. 19-32.

Halmai, Gábor (2016): Der Niedergang der liberalen Demokratie mitten in Europa. In: Transit : Europäische Revue (48), S.20-44.

Jakab, András/Sonnevend, Pál (2012): Kontinuität mit Mängeln: Das neue ungarische Grundgesetz. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 72 (1), S.79-102.

Jelpke, Ulla (2018): Bundesregierung leistet der Orbanisierung Europas Vorschub. Letzter Zugriff 24.8.2018. Online unter: https://www.linksfraktion.de/presse/pressemitteilungen/detail/bundesregierung-leistet-derorbanisierung-europas-vorschub/

Kaufmann, Sylvia-Yvonne (2018): Orbán bleibt ein schwieriger Partner für die EU. Letzter Zugriff: 24.8.2018. Online unter: https://www.spd-europa.de/pressemitteilungen/orban-bleibt-einschwieriger-partner-fuer-die-eu-3451

Meuthen, Jorg/Gauland, Alexander (2018): AfD-Bundessprecher gratulieren Viktor Orbán zum überragenden Wahlerfolg seiner Partei bei den ungarischen Parlamentswahlen. Letzter Zugriff: 24.8.2018. Online unter: https://www.afd.de/afd-bundessprecher-gratulieren-viktor-orban-zumueberragenden-wahlerfolg-seiner-partei-bei-den-ungarischen-parlamentswahlen/

Merkel, Wolfang (2016): Eingebettete und defekte Demokratien. In: Schaal, Gary S. (Hrsg.): Zeitgenössische Demokratietheorie. Band 2: Empirische Demokratietheorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 455-484.

Rupnik, Jacques (2016): Surging Illiberalism in the East. In: Journal of Democracy 27 (4), S. 77-87.

Salzborn, Samuel (2015): Schleichende Transformation zur Diktatur. Ungarns Abschied von der Demokratie. In: Kritische Justiz, S. 48.

Scheppele, K. (2017): Constitutional Coups in EU Law. In M. Adams, A. Meuwese, & E. Ballin (Hrsg.): Constitutionalism and the Rule of Law - Bridging Idealism and Realism. Cambridge: Cambridge University Press. S. 446-478.

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