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Steht uns ein rapider Politikwechsel in Anbetracht der Debatte um den Klimawandel bevor?

Der Sommer 2019 wurde vom Thema des Klima- und Umweltschutzes dominiert und auch perspektivisch scheint dieser Trend zunächst nicht abzureißen. Greta Thunberg und der von ihr inspirierten Fridays-for-Future Bewegung ist es gelungen, seit 2018 nachhaltig aus dem außerparlamentarischen Raum Druck auf die Politik aufzubauen und so ihre Themen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf der internationalen Bühne auf die Agenda setzen zu können und dort auch selbstbewusst zu vertreten. Zuletzt wurde dies beim Wirtschaftsforum in Davos im Januar 2020 deutlich. Doch wie schaffen es Themen auf die Agenda von Regierungen? Und welche Aussicht auf einen rapiden Politikwechsel bestehen?

Von Simon Raulf

Politik in Deutschland: Brüche statt Kontinuität

Dominant in der Interpretation des politischen Betriebs in Deutschland ist das Konzept der Pfadabhängigkeit. Ist ein Weg einmal eingeschlagen, ist es aufgrund der langfristigen Planung und kleinen Schritte der Politik unwahrscheinlich, dass es zu umfassenden Politikwechseln kommt, da das Verlassen eines Pfades zudem immer mit hohen Kosten verbunden ist.[1]

Friedbert W. Rüb widerspricht dem gängigen Verständnis von Kontinuität und langfristiger Planung in der Politik: Zentral geht er von der These aus, dass die Politik in der Bundesrepublik Deutschland von rapiden Politikwechseln geprägt ist. Rapide Politikwechsel beschreiben grundlegende Neuerungen in einem Politikfeld, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie schnell und umfassend umgesetzt werden. Als Beispiel nennt Rüb die Abschaffung der Wehrpflicht, die Einführung des Mindestlohns oder die Energiewende nach der Atomkatastrophe in Fukushima 2011.[2] Auch andere Politikwissenschaftler stellen einen Wandel in der deutschen Politik fest, indem eher das "Risiko als Regelfall" eintritt, was letztendlich in einem strategischen Umdenken der Parteien münden muss, auf mögliche Szenarien reagieren zu können.[3]

Die Multiple-Streams-Analyse von John W. Kingdon (1984) öffnet die Black Box des Agenda-Settings, in dem drei Ströme ausfindig gemacht werden, welche die Erklärung dafür bilden, wieso Themen auf die politische Agenda kommen und andere wiederum nicht.

1.     Der Problem-Strom beschreibt alle Problemlagen und Themen, die in der Politik und in der Gesellschaft diskutiert werden. Deutlich werden sie meist, indem sie in der Presse, anderen Medien oder von Interessengruppen artikuliert werden. Diese Themen werden von der Politik mit Unterstützung der Wissenschaft aufgenommen und bearbeitet. Die angesagten Themen wandeln sich dabei stetig und sind abhängig von externen Faktoren, sogenannten Focusing Events, die durch ihre Unmittelbarkeit einem Thema Auftrieb geben.

2.     Der Policy-Strom beschreibt den Strom der Lösungsvorschläge für politische Probleme. Hier kursieren Ideen und Konzepte, die zur Lösung gesellschaftlich relevanter Problemlagen zur Verfügung stehen. Diese werden wiederum den politischen Akteuren zu Umsetzung angeboten.

3.     Der Politics-Strom beschreibt den politischen Betrieb allgemein mit seiner Machtverteilung in Organisationen und politischen Verbänden, der Regierung als auch den temporären Zeitgeist. Kennzeichen dafür sind Verhandlungen und Austausch zwischen den Akteuren, um eine gemeinsame Position zu finden. [4] Auch innerhalb von Parteien werden Positionen immer wieder neu ausgehandelt, was sich zum Beispiel in „Flügelkämpfen“ äußert.

Entscheidend dafür, ob ein Thema auf der Agenda landet, ist das „Window of Opportunity“. Politische Unternehmer bemühen sich stetig, eine Verbindung der drei Ströme herzustellen, sodass sich das Fenster öffnet, um das eigene Thema auf die Agenda zu setzen. 

Am Beispiel der Klimabewegung dienten Umweltkatastrophen, wie die Waldbrände in Australien, heiße Sommer und Ernteausfälle als focusing events, deren Letztbegründung im sich verändernden Klima verortet wird. Die mediale Präsenz um Greta Thunberg sowie öffentlichkeitswirksame Demonstrationen, unterstützt von Umweltverbänden, der Wissenschaft in Form von „Scientists for Future“ sowie eines breiten Rückhalts in der Bevölkerung, haben das öffentliche Bewusstsein für das Thema Klimawandel geschärft und mit der Policy-Ebene verknüpft. Diese Faktoren zusammengenommen haben zu einer Situation geführt, in der quasi alle Parteien auf die Frage des Klimawandels reagieren mussten und das Thema zeitweise ganz oben auf der Agenda stand.

Rapider Politikwechsel in Sicht?

Fest steht, dass die Klimabewegung den politischen Betrieb – sowohl die Regierungsparteien als auch die Opposition – zu einer Positionierung und Priorisierung zu den Themen Klima und Umwelt gezwungen hat. Dies gilt sowohl in seiner Ablehnung (z.B. bei der AfD) als auch in der Aufwertung des eigenen politischen Profils durch eine erneute Schwerpunktsetzung (Die Grünen), die sich in einem Umfragehoch widerspiegelt. Greta Thunberg und die Fridays-for-Future Bewegung liefern auch Forderungen und Lösungen in Interviews und Thesenpapieren für einen radikalen Wandel in der Umwelt- und Klimapolitik, der sich zum Beispiel in der Forderung nach dem Ende des Kohleabbaus äußert.

Die drei Ströme sind verbunden, das Window of Opportunity steht offen. Auch Konzepte und Experten für eine „Klimawende“ stehen bereit. Kommt es nun zu einem rapiden Politik-wechsel im Sinne Rübs?

Einiges spricht dafür. Das wird erkennbar an der Auseinandersetzung vom politischen Personal, Parteikonzepten zum Umgang mit dem Klimwandel und ermöglicht neue Mehrheitsverhältnisse. Jedoch entscheidend für einen rapiden Politikwechsel sind die Faktoren Zeit und die Abweichung vom Status quo. Zwar konnte das Thema Klimaschutz auf der politischen Agenda prominent positionieret werden, allerdings ist mit Hinblick auf das Konzept des rapiden Politikwechsels mit keinem solchen zu rechnen. Der Hype um Greta Thunberg könnte als Momentum gesehen werden, da dadurch kurzzeitig und unvorhergesehen die Spielregeln der Politik verändert wurden. Bezogen auf die Dauer der Debatte entspricht die Klimaprotest jedoch keinem externen, politischen oder gesellschaftlichen Schock, der die Politik so sehr unter Druck setzt, dass sie sich zu akuten Handlungen und Entscheidungen gezwungen fühlt. So sind entscheidende Faktoren eines rapiden Politikwechsels, Zeit und Umfang der Maßnahmen, in der derzeitigen Situation nicht in dem nötigen Ausmaß erfüllt und schmälern die Wahrscheinlichkeit eines rapiden Politikwechsels deutlich. Trotz dessen scheint sich eine langfristige Ausrichtung der Parteien anzubahnen, nur nicht in der Radikalität, die ein rapider Politikwechsel voraussetzt.

[1]  Gerschewski J. (2016): Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft. In: Lauth HJ., Kneuer M., Pickel G. (eds) Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft. Springer Reference Sozialwis-senschaften. Springer VS, Wiesbaden

[2]  Rüb, Friedbert W. (Hrsg.) (2014): Rapide Politikwechsel in der Bundesrepublik. Theoretischer Rahmen und empirische Befunde, Zeitschrift für Politik, Sonderband 6, Baden-Baden: Nomos, S. 9f.

[3] Korte, Karl-Rudolf (2011): Risiko als Regelfall. Über Entscheidungszumutungen in der Politik, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 21 (3).

[4] Fischer, Severin 2011: Außenseiter oder Spitzenreiter? Das "Modell Deutschland" und die europäische Energiepolitik. In APuZ 46-47/2011, Bonn, S. 60ff.

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Anmerkung LpB LSA: Für die Inhalte der Artikel sind ausschließlich die Autorinnen und Autoren verantwortlich. Etwaige in den Artikeln wiedergegebene Meinungen sind allein als Meinungen der Autorinnen und Autoren anzusehen. Die wissenschaftliche Konsistenz der Arbeiten wird durch die wissenschaftlich fundierte Prüfung und Bewertung durch die jeweiligen Dozentinnen und Dozenten gewährleistet. Zum Thema Gender: Die Autorinnen und Autoren bestimmen selbst, ob und in welcher Form sie Personengruppen in ihren Texten geschlechtlich kennzeichnen. Die Landeszentrale für politische Bildung macht in dieser Hinsicht keine Vorgaben, legt aber Wert auf eine einheitliche Genderform innerhalb der einzelnen Artikel.